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«Wir verstecken uns vor niemandem»

Cédrie Tynowski (24) war einer der stärksten Schweizer beim historischen WM-Auftaktsieg gegen Österreich. Der rechte Flügelspieler spricht über die verrückte Anreise, den grossen Coup und den an Krebs erkrankten Dimitrij Küttel.


Interview: Stephan Santschi



Wie fühlen Sie sich eine Nacht nach dem ersten Schweizer WM-Sieg seit 26 Jahren, dem 28:25 gegen Österreich?

Cédrie Tynowski: Es ist immer noch komisch, nicht ganz real. Vor dem Spiel herrschte ein riesiger Stress, wir wussten nicht, was uns erwartet. Nun ist der erste Druck weg, das erste wichtige Spiel gewonnen. Jetzt können wir langsam mit der Planung anfangen (lacht), ab jetzt sollte es für uns angenehmer werden.


Erst Dienstagnacht war klar, dass die Schweiz für die USA an die WM nachrücken würde, 44 Stunden später stand bereits das Auftaktspiel gegen Österreich auf dem Programm. Wie haben Sie die überstürzte Anreise nach Ägypten erlebt?

Wir haben es alle mit einem Lächeln hingenommen, das konnte uns nicht aus der Fassung bringen. Die Schuhe hatten wir im Handgepäck, doch der Rest unseres Gepäcks traf erst eine Stunde vor dem Spiel ein, und das an einer WM, so schlecht vorbereitet kann man ja eigentlich gar nicht sein (schmunzelt). Psychologisch war das ein Vorteil. Wir hatten nicht viel Zeit zum Nachdenken, wir wurden ins kalte Wasser geworfen. Im Spiel selbst konnten wir alles andere ausblenden. Salopp gesagt, war es nur ein Handballspiel und das kennen wir seit Jahren.


Ihnen selbst gelang mit sechs Toren eine formidable Leistung. Erinnern Sie sich persönlich an einen besseren Auftritt im Schweizer Nationaldress?

Nein, ich glaube nicht. Das einzige Spiel, das ich noch im Kopf habe, ist jenes in Serbien,…


… wo Sie ebenfalls sechs Tore erzielten und die Schweiz trotz einer 31:32-Niederlage die historische Qualifikation für die EM 2020 schaffte.

Genau. Doch dieses Spiel gegen Österreich ist für mich fast noch schöner. Es ist mein erstes grosses Turnier und dann gleich so zu starten, gibt mir ein riesiges Gefühl. Ich bin froh, meinen Teil beigetragen zu haben. Nur mit Zuschauern wäre es noch schöner gewesen.


Zudem haben Sie mit dem Treffer zum 1:3 das erste Schweizer WM-Tor seit 26 Jahren erzielt.

Ausgerechnet ich, ja, das sagte mir nach dem Spiel Nicolas Raemy, mir war das gar nicht bewusst.

Warum meinte er, ausgerechnet Sie?

Weil ich beim Lehrgang nach Neujahr nicht dabei gewesen bin. Ich war aus körperlichen Gründen am Anschlag und nicht ganz fit.


Sie hatten grosses Verletzungspech, liessen sich innert acht Monaten vier Mal an der Wurfschulter, am Meniskus und an der Nase operieren, weshalb Sie auch die EM 2020 in Schweden verpassten. Wie geht es Ihnen jetzt?

Ganz gut, die paar freien Tage haben mir gutgetan. Meine Schulter ist mittlerweile wohl stabiler als die von jedem anderen in der Mannschaft, weil ein Knochenblock an das Gelenk geschraubt worden ist. Die Schulter ist aber meine Hauptbaustelle, ich muss sie gut pflegen und die Belastung dosieren. Das funktioniert soweit recht gut. Vier Operationen in acht Monaten tönt mega extrem, doch es war keine Riesensache. Ich habe die Auszeit einfach genutzt, um nach 100'000 Kilometern einen Totalservice zu machen (lacht). Die Nasenscheidewand liess ich richten, weil ich davor nicht so gut Luft bekommen habe. Nun schlafe ich besser und erhole mich dadurch auch besser.


Eine weitaus schlimmere Diagnose hat Ihr Teamkollege Dimitrij Küttel erhalten, bei ihm wurde kürzlich Lymphknotenkrebs diagnostiziert. Seid ihr mit den Gedanken auch bei ihm?

Für uns alle war diese Diagnose ein Riesenschock. Unser Trainer Michael Suter sagte vor dem Spiel gegen Österreich, dass wir nicht nur für uns, sondern auch für die Abwesenden spielen. Für den verletzten Lucas Meister, für die positiv auf Corona getesteten Luka Maros und Jonas Schelker und natürlich für Dimitrij Küttel gaben wir nochmals 20 Prozent mehr. Dimitrijs Nummer hatten wir auf den Oberarm des Dresses drucken lassen, er war Teil des Teams. Er meldete sich daraufhin bei uns, fand die Geste mega schön und hat uns gratuliert.


Am Samstag trifft die Schweiz auf Vize-Weltmeister Norwegen. Wie sehen Sie diesem Spiel entgegen?

Das wird ein komplett anderes Spiel, der Gegner hat eine ganz andere Qualität. Gegen Österreich haben wir von uns erwartet, dass wir gewinnen. Gegen Norwegen brauchen wir eine Topleistung und müssen gleichzeitig darauf hoffen, dass der Gegner nicht ans Optimum kommt. Doch wir müssen uns vor niemandem verstecken, wir können nur gewinnen und werden auf Sieg spielen. Mit dem Erfolg gegen Österreich haben wir ein erstes Ziel erreicht, doch damit geben wir uns nicht zufrieden.

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