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«Wir teilen uns fast alles, auch die hohen Ziele»

Die 14 besten Nachwuchs-Handballerinnen der Schweiz werden in der Frauen-Handball-Akademie in Cham für die grosse Karriere ausgebildet. Von A bis Z. Was bedeutet das im Alltag? Und wohin führt dieser Weg? Claire Hartz, 17, ist in ihrem zweiten Akademie-Jahr und hat glasklare Vorstellungen. Hier spricht die Neo-Nationaltorhüterin über Kalorien, 10'000 Stunden Training und Heimweh – und den passenden Soundtrack im OYM.


Text: Aufgezeichnet von Pierre Hagmann, Medienteam Swiss Olympic für den Blog «Ungefiltert» von Swiss Olympic


Claire Hartz trainiert im zweiten Jahr in der CONCORDIA Handball-Akademie im OYM. Bild: Valentin Studerus


«Jeden Morgen muss ich die gleichen Fragen beantworten. Wie war mein Schlaf, wie lange habe ich gebraucht, um einzuschlafen? Wie fühle ich mich mental, auf einer Skala von 1 bis 7? Und körperlich? Wie steht es um meinen Zyklus, habe ich Beschwerden, fühle ich mich leistungsfähig? Solche Dinge. Insgesamt 19 Fragen, die wir online beantworten müssen. Das war am Anfang etwas mühsam und speziell, ich fühlte mich schon etwas unter Beobachtung. Mittlerweile ist es in meiner Morgenroutine eingebaut und geschieht fast automatisch. Ich steige in den Bus in Hünenberg, wo ich bei Gasteltern wohne, zücke mein Handy und fülle den Fragebogen aus. 20 Minuten dauert die Fahrt bis zur Akademie im OYM, dem Sport-Leistungszentrum in Cham. Wenn nun jemand angibt, einen ganz schlechten Tag zu haben, erhält der zuständige Athletikcoach eine entsprechende Warnmeldung auf seinem Gerät – und sucht dann das Gespräch. Ich hatte mal einen so schlimmen Muskelkater, dass das Training angepasst wurde. Und bei Zyklusbeschwerden gehst du vielleicht eher für eine lockere Einheit aufs Velo statt in den Kraftraum. Mittlerweile finde ich das Fragebogen-System gut – ich profitiere ja davon, dass wir möglichst gezielt trainieren. Denn darum geht es mir hier: Ich will vorwärtskommen. Ich will stärker und besser werden. Ich will mich in der Nationalmannschaft durchsetzen, ich will in eine ausländische Clubmannschaft, nach Dänemark am liebsten, und dort will ich in die Champions League. Man muss sich grosse Ziele setzen, um etwas zu erreichen.


Dafür nehme ich auch ein paar Entbehrungen in Kauf. Zum Beispiel, dass ich früh von zuhause in Hergiswil wegmusste. Am Sonntagabend packt mich manchmal schon zuhause eine Art Heimweh, bevor ich am Montagmorgen wieder ausrücke, in mein Akademie-Leben mit Training und College im OYM und Gastfamilie in der Nähe. Aber dieses Leben ist ein Privileg. Ich mach ja genau das, was ich am liebsten mache.


Erster Einsatz für die A-Nati: Claire Hartz im WM-Qualispiel gegen Tschechien am 8. April 2023 in Basel. Die Schweizerinnen scheiterten ganz knapp, durften sich aber über die Rekordkulisse von 3124 Zuschauerinnen und Zuschauern freuen. Bild: Erich Mosberger


In 60 Sekunden von der Schule ins Training

Montagmorgen, die Woche beginnt mit Sportkunde. Theorie über Ernährung, Motorik, Biologie. Wir sind 14 Personen in meiner Wirtschaftsgymi-Klasse am OYM College. Jene, die das KV machen, sind in eigenen Klassen organisiert. Nach einer Schullektion steht Athletiktraining auf dem Programm. Vom Schulzimmer in die Garderobe sind es 60 Sekunden. Bei diesem muskelgruppenbezogenen Training absolvieren wir in 90 bis 120

Minuten 18 Full Body Übungen. Jede wählt in Absprache mit den Coaches selbst, welche Muskelgruppen spezifisch trainiert werden. Alle fünf bis sechs Wochen ändert das Programm. Und alle drei bis vier Monate stehen Leistungstests an. Sprints, Yoyo-Tests, Sprungkraft, alles Mögliche wird in Zahlen erfasst und mit den letzten Testresultaten verglichen. Auch die Fett- und Muskelmasse, die mit DXA Scans und 3D-Technik

abgebildet wird. Bei der Analyse mit den Physios und Athletikcoaches hört man dann Dinge wie: «Dein linkes Bein ist nun etwas kräftiger als dein rechtes.» Das Programm wird entsprechend nachjustiert. Ich habe keine Angst vor diesen Tests, bei mir sind die Werte ohnehin fast immer positiv. Das liegt vielleicht auch daran, dass mir die Zeit im Gym echt Spass macht. Ich liebe es, auf ein Ziel hinzuarbeiten und dann in nackten Zahlen den

Fortschritt abzulesen. Diese Zahlen belegen auch, dass wir mit den gleichaltrigen Jungs in Sachen Beinkraft absolut ebenbürtig sind. Das macht auch Spass.


Nächster Halt in der kleinen Akademie-Welt: Mittagessen in der Kantine. Natürlich kommt nur sehr gesundes Sportleressen auf den Tisch, und die Kalorien sind minutiös deklariert. Einige hier sind mega strikt in ihrer Ernährung, ich esse, was mir schmeckt. Im Handball ist das Gewicht weniger relevant als in anderen Sportarten. Ausserdem habe ich den Vorteil, dass ich nicht schnell zu- oder abnehme.


Der Nachmittag beginnt mit zwei Lektionen Informatik, da lernen wir zu programmieren, gefolgt von einer Lektion Englisch. Ich muss mich frühzeitig ausklinken, um pünktlich im Hallentraining zu sein, das um 16.30 Uhr startet. Als Schülerinnen sind wir sehr flexibel hier. Als Sportlerinnen nicht. Handball hat Priorität. Von der Schule kann ich mich jederzeit mit einer Absenzmeldung im Outlook abmelden, das muss ich nicht immer begründen. Oder eben den Unterricht verlassen, wenn es Überschneidungen mit dem Trainingsplan gibt wie an diesem Montagnachmittag. Diese lassen sich nicht vermeiden, zumal ja ganz verschiedene Athletinnen und Athleten hier im OYM-College sind. Wir finden ohnehin alle Unterlagen auch online via Microsoft Teams. So kann jede dann büffeln, wenn sie Zeit hat. Bei mir ist das oft am Sonntag der Fall, meinem eigentlich einzigen freien Tag. Den verbringe ich zuhause bei meiner echten Familie, mit meinen Eltern und meinem Bruder. Aber die Schule ist in meinem Akademie-Leben die grösste Herausforderung, ich muss aufpassen, dass ich dranbleibe. 24 Lektionen sind es total pro Woche. Grundsätzlich finde ich dieses duale System super, und es ist mir wichtig, einen Schulabschluss zu machen. Im Zweifelsfall geh ich aber schon lieber ins Training.


Am Wochenende werden Freundinnen zu Gegnerinnen

Unser tägliches Handballtraining in der Halle dauert zwei Stunden. Es sind intensive Stunden, auf eine andere Art als die Trainings mit meinem Club, den Spono Eagles aus Nottwil, der aktuellen Nummer 1 im Schweizer Frauenhandball. Dort stehe ich unter Vertrag, dort spiele ich Meisterschaft – und dort trainiere ich freitags vor dem Wochenendspiel mit dem Team, zusammen mit zwei anderen Akademie-Spielerinnen, dort liegt der Trainings-Fokus auf dem Taktischen. Dieser wöchentliche Transfer von der Akademie gelingt problemlos, als Goalie ist es wohl einfacher, sich taktisch ins Team zu integrieren, wenn man die Woche über anderswo trainiert hat. Speziell ist es eher, am Wochenende in der Meisterschaft gegen andere Akademie-Spielerinnen anzutreten, mit denen du die ganze Woche zusammen verbracht hast und die teils zu Freundinnen geworden sind, die aber bei anderen Vereinen spielen. Dann fallen nicht nur Tore, sondern auch viele Sprüche. Und danach gehen wir auch mal alle zusammen in den Ausgang.


Die nötige Grösse für den Goalieposten: Claire Hartz (3.v.l.) mit der U-19-Nationalmannschaft an der EM 2021 in Slowenien. Bild: zVg.


Im Akademie-Training kommen viel mehr Abschlüsse auf mein Tor als im Clubtraining. Das liegt daran, dass unser Cheftrainer, der Däne Martin Albertsen, wahnsinnig viel Wert aufs Schusstraining legt und uns generell stark fordert. Er arbeitet viel mit Täuschungsmanövern, neuen Laufwegen und speziellen Sprung- und Schlenztechniken, damit hat er schon andere Spielerinnen international erfolgreich gemacht. Nun feilen unsere Feldspielerinnen wie verrückt an diesen Methoden. Für mich im Tor bedeutet das Hochbetrieb. Die letzten 30 Minuten wird eigentlich nur geschossen und geschossen und geschossen. Danach bist du platt. Zuviel ist mir bis jetzt nie geworden.


Einmal die Woche habe ich ein spezifisches Training mit Goalie-Trainerin Laura Sahli. Sie lehrt mich, in welcher Situation welche Bewegung die richtige ist, wann ich welchen Winkel wähle im Stellungsspiel. Auch hier gilt: Fortschritt durch ewige Wiederholung. Bis es intuitiv sitzt. Unser Headcoach Martin glaubt an das 10’000-Stunden-Prinzip: Um etwas wirklich meisterhaft zu beherrschen, musst du 10'000 Stunden investieren. Meine Fortschritte hier? Recht krass, finde ich. Vor allem im ersten halben Jahr hier ging es steil bergauf. Nun wird die Kurve naturgemäss flacher. Die Infrastruktur und die individuelle Betreuung, etwa mit wöchentlichen präventiven Physiotrainings, helfen natürlich.


Premiere beim Rekordspiel

Ein bisschen Talent brauchts auch. Und die nötige Grösse, wenn du im Tor stehst. Darum bin ich ja Torhüterin geworden: Im Schülerhandball in der 1. Klasse war ich schon die Grösste, also musste ich zwischen die Pfosten. Und so nahm das seinen Lauf, via den BSV Stans. Mit 10 war ich schon in der U14. Das vorläufige Highlight kam kürzlich, mit der erstmaligen Nomination für die Schweizer Frauen A-Nationalmannschaft anlässlich der WM-Qualifikationsspiele gegen Tschechien Anfang April. In Basel spielten wir vor über 3`000 Zuschauerinnen und Zuschauern – das erste Mal mit der Nati und vor so vielen Leuten zu spielen, war atemberaubend, es wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Ich fands cool, dass ich mit so vielen Akademie-Kolleginnen wie auch Mannschaftskolleginnen auf dem Feld stehen durfte. Beim Hinspiel in Basel war gleichzeitig der erste Schweizer Women’s Handball Day. Schön, dass der Frauenhandball jetzt gepusht wird, die Akademie spielt dabei eine wichtige Rolle. Es bleibt trotzdem noch viel zu tun in der Schweiz.


Im Stellungsspiel zählt jeder Zentimeter: Im Einsatz gegen Deutschland an der U20-WM 2022. Bild: zVg.


Teil dieses exklusiven Kreises der Handball-Akademie zu sein, hat mir viel Selbstvertrauen gegeben. Manchmal bin ich zu ehrgeizig, zu verbissen, dann muss ich den Fokus neu richten – und schauen, dass ich einfach Spass habe. In diesem Prozess hilft mir meine Mentaltrainerin, mit der ich schon seit bald vier Jahren hin und wieder zusammenarbeite. Mit ihrer Unterstützung konnte ich auch meine gelegentlichen Schlafprobleme in den Griff kriegen. Am meisten Energie ziehe ich aus dem Sport selbst. Wenn mir etwa ein Hammerspiel gelingt – das ist so ein geiles Gefühl!


Um 18.30 Uhr ist das Hallentraining und mein Arbeitstag offiziell beendet. Ich fahre im Bus zurück nach Hünenberg zum Znacht mit meinen Gasteltern, bevor ich in meinem Zimmer noch einige Dehnübungen mache und vielleicht noch etwas für die Schule. Und am nächsten Tag in mein kleines Akademie-Universum zurückkehre, mit meinen Schulkolleginnen, die auch meine Handballkolleginnen und Freundinnen sind. Wir sind wie eine grosse Familie, teilen uns fast alles, auch die hohen Ziele, das ist schön. Ich liebe diese gemeinsame Ambition und Energie, die Emotionen auch. Meine Teamkolleginnen sagen, ich sei auf dem Platz mega laut. Als Team-DJ sorge ich auch für laute Musik in der Trainingshalle. Das braucht auch etwas Mitgefühl. Wenn wir am Wochenende mit Spono gegen eine Akademie-Spielerin einer anderen Mannschaft gewonnen haben, will ich diese am Montagmorgen musikalisch ja nicht provozieren. Dann gibt’s auch mal etwas mit weniger Bass.


Neue Dimensionen für den Schweizer Frauenhandball

Claire Hartz ist seit eineinhalb Jahren Mitglied der Concordia Handball-Akademie Frauen des Schweizerischen Handballverbands im Kompetenzzentrum OYM. Diese startete im Sommer 2020 mit dem Ziel, die besten Nachwuchsspielerinnen der Schweiz unter professionellen Bedingungen an ein internationales Niveau heranzuführen – und damit auch die Schweizer Nationalmannschaft an die Weltspitze. Die Ausbildung in der Akademie dauert normalerweise vier Jahre, der Betrieb wird finanziell unterstützt, kommt jedoch nicht ohne Anteil der Spielerinnen aus. Die Selbstbeteiligung beträgt 12’000 Franken pro Saison. Darin enthalten sind die Unterkunft, Verpflegung, Athletik-Tests, präventive Behandlungen, Handball-Trainings sowie das OYM-College.



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